Was ist Acro Yoga?
Entstehung und das erste Vierteljahrhundert
Acro Yoga ist eine Mischung aus Akrobatik und sanften Bewegungsformen, die um die Jahrtausendwende in zwei verschiedenen Ansätzen (und möglicherweise unabhängig voneinander) entstand:
AcroYoga Montreal: Jesse Goldberg und Eugene Poku entwickelten um 1999 in Kanada eine Form von Hebefiguren, die von Tanz und Kontaktimprovisation inspiriert war. Diese Variante legte den Fokus auf fließende Bewegungen und Gemeinschaft. Zunächst als „ContactAcro“ bezeichnet, führte ein Prozess der Weiterentwicklung, bei dem die Praxis an das vorherrschende Bild von Yoga angepasst wurde, 2003 sowohl zur Gründung von „AcroYoga Montreal“ als auch zur Umbenennung der Praxis in „AcroYoga“. Die dazugehörige Domain, die Jesse und Eugene wählten, war: acroyoga.com.
AcroYoga Intl.: In den USA kombinierte nur etwas später Jason Nemer zusammen mit Jenny Sauer-Klein akrobatische Hebefiguren mit Thai Massage und „Therapeutic Flying“ und gründete 2003 „AcroYoga International“ („AcroYoga Intl.“) in Los Angeles, Kalifornien. Diese Variante war aufgrund von Jasons starkem akrobatischen Hintergrund dynamischer und akrobatischer ausgerichtet als jene aus Kanada. Zum Ausgleich zu dieser kraftvollen Praxis, die er in Anlehnung an die Begrifflichkeiten, die zu jener Zeit im Yoga en vogue waren, auch als „Solar“ bezeichnete, enthielt sie – zumindest anfangs – die beiden oben genannten sanften Praktiken, die Jason unter dem Begriff „Lunar“ zusammenfasste. Die dazugehörige Domain wurde als acroyoga.org registriert, da die .com-Domain von Eugene und Jesse nur Monate zuvor besetzt worden war.
Jason Nemer versuchte um 2006, „AcroYoga“ als Marke zu schützen. Er scheiterte damit in einem Rechtsstreit, doch es ist letztlich seinem starken Wunsch, sein AcroYoga in die Welt zu bringen, dem sich daran anschließenden intensiven Marketing und dem unermüdlichen Einsatz von Jason, Lehrer:innen auszubilden, zu verdanken, dass du heute Kurse und Communities auf der ganzen Welt findest.
Die erste Form, AcroYoga Montreal, existiert glücklicherweise immer noch – und hoffentlich bleibt das auch noch lange so. Diese Montreal-Community ist besonders herzlich und stellt Werte in den Vordergrund, die ich voll und ganz unterstütze. Dort steht der Mensch und sein Umfeld im Vordergrund, das Mandat beinhaltet soziale Gerechtigkeit, und die Mission betont, dass sich die Praxis dem Körper anpasst, und nicht umgekehrt. Diese Dinge stehen nicht nur als Einleitung an erster Stelle auf der Homepage, sondern sind nach meiner Erfahrung auch tatsächlich die aufrichtig gelebten Standards und Richtlinien der Gemeinschaft AcroYoga Montreal.
Im Folgenden konzentriere ich mich jedoch auf die Variante von Jason Nemer, sowie auf die vielen Richtungen, die sich aufgrund des massiven Einflusses von Jason auf die Verbreitung und Popularisierung von AcroYoga durch Ausbildung, Festivals und Social Media in den letzten zwei Jahrzehnten größtenteils aus dieser Form entwickelt haben.
Heute schreiben sich verschiedene Stilrichtungen diesen Namen mal „Acro Yoga“, mal „AcroYoga“. Ich verwende den Begriff „Acro Yoga“ (mit Leerzeichen), um der Vielfalt der heutigen Praktiken Rechnung zu tragen. „Acro Yoga“ erscheint mir dabei als die offenere Bezeichnung.
Acro Yoga heute
Acro Yoga ist heute ein wundervoller Sport, um sich in Gemeinschaft auszupowern. Es dreht sich alles um die drei Rollen: Base (der Mensch, der den Flyer trägt), Flyer (der Mensch in der Luft, getragen von der Base) und Spotter (der Mensch oder die Menschen, die für Sicherheit sorgen). Heben und gehoben werden – überkopf, auf der Seite, auf dem Rücken, hoch in der Luft, näher am Boden schwebend … Ohne die Gefahr, sich etwas zu tun, weil du dich auf den Spotter verlassen kannst. Einander vertrauend. Das ist Acro Yoga. Für viele: krass, sag ich mal. Die meisten haben „so etwas“ in ihrem Leben entweder als unmöglich oder als „ja, damals vielleicht, als ich noch jung war“ abgeschrieben. Und so ist es eben nicht. Und es hat Kraft, das an sich zu erleben – ungläubig und erstaunt.
Das Besondere daran ist, dass hier keine Konkurrenz herrscht, sondern die Grundidee von gegenseitiger Unterstützung im Vordergrund steht. Es ist sehr nah an Akrobatik und vor allem Partnerakrobatik herangerückt – heute eine Liebe, die nicht als solche anfing und mehr als nur Anlaufschwierigkeiten hatte (eine Geschichte für ein andermal). Zwischen diesen Disziplinen herrscht mittlerweile ein reger Austausch. Die sanften und leisen „Lunar“-Elemente sind faktisch aus der Praxis verschwunden, auch wenn sie auf dem einen oder anderen Festival und in traditionsbewussten Ausbildungen noch wachgehalten werden.
Wenn du einen guten Unterricht findest, sollte bei allem Anspruch und dem Respekt, den man den Übungen entgegenbringen sollte, gelten, dass du auch als Anfänger:in so abgeholt wirst, dass du dich sicher fühlst und im besten Sinne „empowered“. Die Bemerkung einer Teilnehmerin von vor etwa 10 Jahren ist kein Einzelfall – sie wurde immer wieder so oder ähnlich geäußert, von ihr aber besonders schön formuliert: „Ich hätte danach kein Auto gebraucht, um nach Hause zu kommen. Ich bin immer noch geflogen.“ Mut, Vertrauen und Selbstvertrauen helfen und werden – wenn sie schon da sind – in dir wachgerufen und ausgebaut. Es ist einfach eine großartige Praxis.
Dieses Wunderbare kann sich verlieren, wenn du es zu sehr als etwas siehst, mit dem du dir beweisen möchtest, dass du diese oder jene Figur auch turnen kannst. Dann ist der Spaß weitestgehend vorbei. Ein guter Unterricht kann aber auch das auffangen – und dich wieder auf das einnorden, was dir langfristig weiterhilft.
Der Spaß am Acro Yoga – und davon steckt unfassbar viel in dieser Praxis – steht und fällt mit der Anleitung und deiner Bereitschaft, dich auf Unerwartetes einzulassen.
May your Acro Yoga journey begin!